“In der Tat glaube ich, dass die beste Definition des Menschen diese ist: ein zweibeiniges, undankbares Wesen. “
Leider habe ich keine freie Textversion des Buches im Internet gefunden.
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Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist ein Monolog, der aus der mehrjähriger Isolation des Hauptdarstellers im Untergrund/Kellerloch resultiert. “Untergrund” bedeutet hier vor allem die Isolation von der “realen” Welt, vom gesellschaftlichen Leben und allen menschlichen Beziehungen genauso wie von Pflichten wie Arbeit oder Familie. Der Protagonist versteckt sich dort, seit er in St. Petersburg eine kleine Wohnung gekauft hatte als er das Geld von einem Verwandten geerbt hatte. In diesem ersten Teil des Buches lernt man die Gedanken unseres Protagonisten kennen, die seine Persönlichkeit auf psychoanalytische Weise reflektieren und analysieren, obwohl das Konzept der Psychoanalyse damals noch nicht erfunden wurde. Er hat seine eigenen Vorstellungen über das Wesen der Menschheit und diskutiert mehrere philosophische sowie politische Ideen, die um das späte 19. Jahrhundert entstanden sind.
Im zweiten Teil von “Aufzeichnungen aus dem Kellerloch” schreibt der Protagonist über einige Episoden aus seinem Leben. Seine Aussage ist, dass es keine Autobiographie mit absoluter Wahrheit gibt. Die Person schämt sich immer für einige Aspekte seines Lebens und vermeidet es, sie zu erwähnen. Der Hauptdarsteller, der mit dem Leser spricht, möchte über sein Leben schreiben, ohne die Peinlichkeiten zu verbergen. Er schreibt über die schändlichsten, boshaftesten und widerlichsten Dinge, die er getan hat. Versteht mich nicht falsch. Es gab kein schreckliches Verbrechen. Er tat einfach Dinge, von denen er wusste, dass sie falsch waren. Er hat nicht nur anderen Menschen wehgetan, sondern vor allem sich selbst. Vielleicht ist dieses Buch deshalb so gruselig. Jeder kann sich mit dem Protagonisten identifizieren. Und manchmal möchten wir die Schande unseres Lebens sogar vor uns selbst verbergen, vielleicht vor allem vor uns selbst.
Am interessantesten an diesem Buch ist, wie sich der Protagonist immer wieder in Widersprüche verwickelt. Er macht eine Aussage, bestreitet sie und erklärt weiter, warum er gelogen hat. Es ist, als würde er lange Zeit mit sich selbst streiten und versuchen, seine Handlungen und Gedanken zu ordnen. Ich hebe gleich ein Beispiel. Gleich zu Beginn des Buches können Sie Folgendes lesen:
“Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z.B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wen ich mit meiner Bosheit ärgern will, ich weiß auch ganz genau, daß ich nicht einmal den Ärzten dadurch schaden kann, daß ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß am allerbesten, daß ich damit einzig und allein mir selbst schade und niemandem sonst. Aber dennoch: Wenn ich gegen meine Krankheit nichts tue, so unterlasse ich es aus Bosheit. Meine werte Leber ist krank; nun, da mag sie noch kränker werden!”
Hast du jemals so etwas gelesen? Dies ist so kraftvoll, so menschlich, aber gleichzeitig so zynisch und verbittert. Meistens sind uns die Widersprüche, in die wir uns verwickeln, nicht bewusst. Oft wissen wir nicht einmal, warum wir die Dinge tun, die wir tun. Wir wissen nicht, was wir wollen und warum. Dostojewski versuchte, den psychologischen Zustand des Menschen einzufangen, wie es kein anderer tat. Seine Behauptung ist, dass die Menschheit nicht vernünftig ist und keine Dinge verfolgt, die zu ihrem „Vorteil“ sind. Manchmal möchten wir auch Dinge, durch die wir leiden, nur um zu zeigen, dass wir tun können, was wir wollen. Das berühmteste Zitat aus diesem Buch, auf das sich viele Leute (wie Watzlawick in seinem Buch “Anleitung zum Unglücklichsein” link) bezieht, ist:
„Was kann man nun von einem Menschen […] erwarten? Überschütten Sie ihn mit allen Erdengütern, versenken Sie ihn in Glück bis über die Ohren, bis über den Kopf, so daß an die Oberfläche des Glücks wie zum Wasserspiegel nur noch Bläschen aufsteigen, geben Sie ihm ein pekuniäres Auskommen, daß ihm nichts anderes zu tun übrigbleibt, als zu schlafen, Lebkuchen zu vertilgen und für den Fortbestand der Menschheit zu sorgen – so wird er doch, dieser selbe Mensch, Ihnen auf der Stelle aus purer Undankbarkeit, einzig aus Schmähsucht einen Streich spielen. Er wird sogar die Lebkuchen aufs Spiel setzen und sich vielleicht den verderblichsten Unsinn wünschen, den allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um in diese ganze positive Vernünftigkeit sein eigenes unheilbringendes phantastisches Element beizumischen. Gerade seine phantastischen Einfälle, seine banale Dummheit wird er behalten wollen …“
Diese Aussage fasst das Wesen der Menschheit auf so brutale Weise zusammen… Man kann nicht anders als zu erkennen – Dostojewski hat ins Schwarze getroffen. Wir sind nicht nur rationale Kreaturen. Wir sind auch emotional, geleitet von unseren Instinkten und Wünschen. Wir haben Träume. Wir haben Ziele. Wir wollen uns verbessern. Wir wollen uns verändern. Nicht nur wir, sondern auch unsere Umgebung. Wir sind keine Maschinen. Wir sind nicht mit dem zufrieden, was wir haben. Wir wollen immer mehr. Deshalb können wir nicht in einer utopischen Welt leben. Es wäre nichts Gutes.
“Kurz, man kann über die Weltgeschichte alles mögliche sagen, alles, was nur der wüstesten Phantasie in den Kopf kommen kann. Nur eines kann man nicht sagen: daß sie vernünftig wäre.
Der Charakter des “Untergrund Mannes” ist schwer zu beschreiben. Aber er fühlt sich an wie eine echte Person. Fast könnte es Dostojewski selbst sein. Es könnte ein Teil von ihm sein. Vielleicht ist es ein Teil von uns allen. Und im zweiten Teil des Buches, in dem keine Gedanken beschrieben werden, sondern die Handlungen unseres Protagonisten, verstehen wir voll und ganz, wie gefährlich ein solcher Zustand der Isolation sein kann. Es gibt eine Episode, in der er in die “echte” Welt geht und daran teilnehmen will. Eines der ersten Dinge, die er sieht, ist ein Mann, der aus dem Wirtshausfenster geworfen wurde. Wie reagiert er? Ist er geschockt? Vielleicht genervt? Nein, er ist neidisch. Neidisch auf den Mann, der aus dem Fenster geworfen wurde!
Wie einsam und verzweifelt muss man sein, um sich so zu fühlen? Wie verletzt, wie wenig an die Gesellschaft gebunden? Vielleicht ist es die Intensität der Konfrontation, die man nach einer langen Zeit sozialer Abstinenz erleben möchte? Man will sich nicht Schritt für Schritt annähern, sondern alles auf einmal fühlen. Das wahre Leben. Das Leid und die Schande. Aber auch die Ehre und den Stolz. Unser Protagonist betritt die Taverne. Aber nichts passiert. Er wusste, dass es nicht vernünftig war, einen Kampf zu beginnen. Vielleicht, weil er ein Feigling ist. Vielleicht, weil er weiß, dass sein Wunsch nicht richtig ist. Aber er fühlt sich wieder als Außenseiter, als wäre er es nicht mal wert, bemerkt zu werden. Er ist nicht mal der Konfrontation wert. Er wird einfach von der ganzen Welt ignoriert. Weil er der Mann aus dem Kellerloch ist.
Dies ist nur eine der Begegnungen mit der Außenwelt, die unser Protagonist erlebt. Da sind noch viele mehr. Peinlicher, böser, auchl trauriger. Es ist, als wäre er nicht in der Lage zu lieben oder Freundschaften aufzubauen, ohne die Menschen, die sich ihm nähern, zu besitzen und zu zerstören. Er sucht Liebe und Akzeptanz, leugnet sie aber gleichzeitig. Die Emotionen wechseln von einem Zustand in das genaue Gegenteil. Liebe verwandelt sich in Hass, Stolz in Schande, er fängt an Sadismus auszuüben und endet im Masochismus. Dies macht ihn zu einer tragischen Figur, die am Rande unserer Gesellschaft lebt. Physisch lebendig, aber nicht in der Lage, mit anderen Menschen zu leben und dadurch als sozial tot zu bezeichnen.
Gibt es heute Personen wie den Kellerloch-Menschen? Ich denke, es gibt sie. Das beste Beispiel für heutige “Kellerloch” -Menschen sind die Hikikomori in Japan oder allgemeiner die “NEETs” (vom Englischen “Nicht in Bildung, Beschäftigung oder Ausbildung”). Die meisten von ihnen sind junge Männer, die sich von der Gesellschaft isolieren und zu Hause bei ihren Eltern bleiben. Die Zeit verbringen sie indem sie Computerspiele spielen oder schlafen. Desillusioniert, vor der Zukunft verängstigt, von der “realen” Welt, in der es so leicht ist, zu versagen. Die Erfolgserwartungen von Eltern und Gesellschaft sind aus ihrer Sicht zu hoch. Isolation macht sie schwach und nicht in der Lage, in unserer Mitte zu leben. Es gibt ein interessantes Video über Hikikomori in Japan, das ich mit hier teilen möchte: Link zum Video
“Aufzeichnungen aus dem Kellerloch” ist ein Buch, das zeigt, wie Isolation einen menschlichen Geist verändern kann. Wir brauchen andere Menschen, mit denen wir interagieren können. Echte Menschen. Menschen, die wir berühren, sehen und hören können. Wir brauchen einen Ideen- und Gedankenaustausch, sonst werden wir verrückt. Wenn es niemanden gibt, der unsere Weltsicht herausfordert, mit dem wir unsere Gedanken nicht vergleichen können, könnten wir verbittert, arrogant und unvorbereitet auf die „echte“ Welt sein. Wir könnten sozial blind werden wie unser Mann im Untergrund. Und je isolierter wir werden, desto schwieriger wird der Weg zurück in die Gesellschaft.
I hope I motivated you to read ‘Notes from Underground’. It is a disturbing book and it cuts to the bone. But sometimes we need books like this to wake up.
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